Referenzen einmal anders: eine Auswahl an Persönlichkeiten, mit denen ich gesprochen habe. Hinter besonders hervorgehobenen Namen verbirgt sich ein Auszug aus dem jeweiligen Interview.
Elizabeth Strout * Jason Wu * Malcolm McLaren * Yu Tsai * Hartmut Esslinger
David Wyndorf * Claus Kleber * Daniel Coyle * Fritz Pleitgen * James Frey
Jean Michel Jarre * Scott Weiland * Sibylle Berg * Jimmy Wales * DBC Pierre
Jutta Kleinschmidt * Cecilia Bartoli * Armin Rohde * Marilyn Manson * Donna Leon
Henry Rollins * Sinead O'Connor * Emily the Strange * Paul Frank * Jim Rakete
Iris Berben * Romain de Marchi * Götz Alsmann *
Donna Leon: "Viele Leute lächeln und sind Verbrecher."
Erschienen in Galore Vol. 15, 2006
19.11.2005, Wien. Kultiviert, freundlich und schlagfertig wirkt die Krimiautorin bei der Fotosession und im Gespräch. Als sie erfährt, dass wir über die Oper reden werden, leuchten ihre Augen - es fehlte nicht viel, und sie hätte vor Freude in die Hände geklatscht.
Frau Leon, ich war noch nie in Venedig.
Donna Leon: Oh, gut. Fahren Sie bloß nicht hin.
Warum nicht?
Ich tue mein Bestes, um Leute davon abzubringen. Es ist hässlich, voller Menschen, es stinkt, ist zu heiß, zu kalt, es gibt zu viele Festumzüge, Seuchen wie Cholera und Typhus. Da möchten Sie gar nicht hin.
Sie möchten keine Touristen in Ihrer Stadt haben, richtig?
Nein, darum geht es mir gar nicht so sehr. Ich habe nichts gegen Touristen. Aber an jedem beliebigen Tag sind da die etwa 60.000 Menschen, die in Venedig leben, und mehrere hunderttausend Touristen. Stellen Sie sich das einmal vor! Ob Sie nun in New York leben oder in Düsseldorf: Nehmen Sie drei- oder viermal so viele Menschen wie die, die in der Stadt wohnen, und lassen Sie die in der Innenstadt herumlaufen. Das würde Ihnen nicht gefallen, denn dadurch wird alles sehr schwierig. Ob man ein Brot kaufen oder sich die Haare schneiden lassen will, immer muss man durch Horden von sich sehr langsam bewegenden Touristen waten.
Wenn es in Venedig so furchtbar ist, wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, sich dort niederzulassen?
Weil es nicht so schlimm war, als ich dort hinzog. Ich fuhr 1966 zum ersten Mal nach Venedig. Damals war es nur eine verschlafene Provinzstadt, es gab keine enorme Anzahl von Touristen. Als ich 1981 dort hinzog, traf das immer noch zu. Das war vor 25 Jahren, bevor das Phänomen des Massentourismus begann. Man konnte dort ein ganz normales Leben führen. Heute ziehen die Herden täglich an meinem Fenster vorbei. (lacht) Ich übertreibe das gerade ganz dramatisch. Es gibt in Venedig auch einige Orte, wo es nicht so ist. Dazu muss man das Bermudadreieck aus Rialto, San Marco und Accademia verlassen. Dann findet man eine Provinzstadt, in der nicht viele Leute sind. Und das ist sehr schön.
Was ruft eigentlich das Verlangen danach hervor, einmal im Leben nach Venedig zu fahren?
Ich glaube - und das sollte ich eigentlich nicht sagen, weil ich damit so aggressiv und beleidigend klinge - zum Teil ist das ein Gefühl von kultureller Pflicht. Menschen auf einem gewissen ökonomischen und beruflichen Niveau möchten kultiviert und anspruchsvoll wirken. Sie haben eine Liste von Orten, an die sie reisen müssen, und eine Liste von Dingen, die sie darüber sagen sollten. Und ich glaube, Venedig steht ganz oben auf dieser Liste. Jeder will einmal im Leben nach Venedig, damit er sagen kann: "Oh ja, ich war in Venedig." Das ist nachvollziehbar. Aber wenn man von einer Lust auf Kultur, Schönheit und Kunst dort hingezogen wird, warum gehen dann so viele Touristen die halbe Zeit ihres Aufenthaltes einkaufen? Diese Verschwendung von Zeit kann ich nicht verstehen.
Was wäre denn eine gute Zeitnutzung?
Spazieren gehen. Sich verlaufen. Ohne Stadtplan an einen Ort in der Stadt gehen. Einfach einmal rechts, einmal links gehen, dann kommt man an einen Kanal und kann nicht weiter, wendet sich nach links und so weiter. Zwei Stunden damit verbringen, einfach herumzulaufen, sich zu verirren. Und sich dabei diese schöne Stadt anzuschauen.
Verbringen Sie auch so Ihre Zeit in Venedig, wenn Sie einmal Zeit haben?
Mich zu verlaufen ist schwierig geworden, denn ich kenne die Stadt ja schon 40 Jahre lang. Ich gehe aber oft spazieren. Am liebsten nachmittags, wenn es noch ein schönes Licht gibt. Dann gehe ich in einen Teil der Stadt, den ich nicht kenne. Da laufe ich einfach eine Stunde allein herum. Bloß um mich umzuschauen. Dann gehe ich nach Hause, zurück an die Arbeit.
Laufen ist die hauptsächliche Fortbewegungsmöglichkeit in Venedig. Wenn man kein Auto benutzen kann und alles zu Fuß oder mit dem Schiff tun muss…
Das ist wunderbar.
Und wenn Sie…
Mineralwasser kaufen? Nun, man kauft nicht für eine ganze Woche ein. Die meisten Leute haben das Glück, einen Gemüsehändler fünf Minuten vom Haus entfernt zu haben. Also kauft man täglich oder alle zwei Tage frisches Obst und Gemüse. Man muss alles nach Hause tragen, über ein, zwei oder drei Brücken, und dann muss man es, in meinem Fall zum Beispiel, die Treppen hoch in den dritten Stock tragen. Man plant diese Dinge. Wenn Gäste zum Essen kommen und man weiß, dass man Mineralwasser braucht, versucht man, die vorher zu besorgen. Drei Tage lang kauft man jedes Mal auf dem Nachhauseweg zwei oder drei Flaschen. Das geht einem im Fleisch und Blut über. Man passt sein Leben den Notwendigkeiten an, auch in Venedig. Die Lieferanten verbringen ihr Berufsleben damit, in den dritten, vierten, fünften Stock hinaufzusteigen, denn die meisten Häuser haben keinen Aufzug.
Sie klingen begeistert. Was gefällt Ihnen daran?
Man merkt dadurch, dass man ein Mensch ist. Man muss ständig die Grenzen seines Körpers hinnehmen. Es ist das Besondere in Venedig, dass man nicht ins Taxi oder in die Limousine springen und nach Hause fahren kann. Jeder muss die gleichen Transportmittel nutzen, jeder fährt mit dem Vaporetto. Also trifft man den Unternehmensdirektor, die obersten Richter, den Bürgermeister, die Millionäre, ob es nun Amerikaner oder Venezianer sind. Das ist eine sehr demokratische Gesellschaft. Die sehr Reichen, die sich in anderen Gesellschaften von den weniger Reichen absetzen können, können das in Venedig nicht. Außerhalb ihrer Häuser sind sie die meiste Zeit zur physischen Anwesenheit von weniger Reichen gezwungen. Ich denke, das ist sehr heilsam.
Welchen Einfluss hat das auf die gesellschaftlichen Umgangsformen?
Die Leute tendieren zur Demokratie, die Venezianer auf jeden Fall. Aber sie haben auch ihren Dialekt, der sie eint.
Und alle reden über einander. Gefällt Ihnen diese Form der Kommunikation?
Ja. Das gehört zu den Dingen, die mir an Venedig gefallen. Weil wir zu Fuß gehen müssen, laufen wir uns ständig über den Weg. Merkwürdige Beziehungen entstehen daraus: Nachdem man sich ein paar Mal gesehen hat, kennt man Leute ohne sie zu kennen. Mir fallen sofort 15 oder 20 Menschen ein, die ich nun, nach einigen Jahren in dieser Stadt, anlächle, grüße und frage, wie es ihnen geht, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wer sie sind. Ich weiß nicht was sie tun oder ob sie verheiratet sind.
Ist Klatsch ein Thema in Venedig?
Oh ja. Das gibt es doch überall, in allen kleinen Städten mit 60.000 Einwohnern. Da wissen die Leute Bescheid. Weil sie zusammen zur Schule gegangen sind, ihre Väter vor 50 Jahren Kollegen waren und so weiter. Das ist sehr praktisch, wenn man etwas herausfinden möchte. Man braucht bloß ein paar Leute anzurufen, früher oder später trifft man auf jemanden, der die Person kennt, auf die man neugierig ist. Oder kennt jemanden, der sie kennt oder mit ihrem oder seinem Bruder zur Schule gegangen ist und etwas für einen herausfinden kann.
Dient Ihnen das auch zur Inspiration?
Nein. Aber ich bin schon neugierig.
Ist der morbide Charme Teil der Schönheit, die Sie in Venedig wahrnehmen?
Ich glaube nicht an dieses Zeug mit dem morbiden Charme. Die Leute haben zu viel Thomas Mann gelesen - ich finde die Stadt überhaupt nicht morbide. Sie ist ruhig und verschlafen, aber kein trauriger Ort. Vielleicht hat sich meine Wahrnehmung auch dadurch verändert, dass ich schon so lange dort lebe. Ich kenne viele Menschen dort, und das sind keine unglücklichen Leute, die ein trauriges Dasein fristen. Dass die Stadt ein wenig verfallen wirkt, ist schlicht die Folge davon, dass die Stadt auf Schlamm und Wasser gebaut ist. Man muss immer weiter bauen und renovieren, weil sonst der ganze Ort zusammenfällt. Oder verrottet.
Oder abbrennt wie die Oper von Venedig. Dort sind Sie angeblich zu Ihrem ersten Buch gekommen.
Die Geschichte ist wahr. Ich war in La Fenice, bevor sie abgebrannt ist. Gabriele Ferro, ein sizilianischer Dirigent, gab dort "La Favorita" von Donizetti. Seine Frau, er und ich waren in seiner Garderobe, und aus irgendeinem Grunde erwähnte er einen anderen Dirigenten, über den er eine nicht sonderlich gute Meinung hatte. Wir begannen nachzudenken: Wo könnte man den sterben lassen und wie? Ich dachte: Das ist eine gute Idee für einen Krimi. So benutzte ich dieses Gespräch als Startpunkt für eine Geschichte, an dem ich etwa acht Monate geschrieben habe.
Die Oper war schon immer ein Ort des Sehens und Gesehen Werdens.
Ja, das ist leider so. Das beeinträchtigt zwar nicht meinen Genuss, aber ich würde trotzdem gern eine Veränderung erleben. Denn auf lange Sicht ist es sehr schlecht für die Oper, mit einem bestimmten Gesellschaftsniveau und einer bestimmten Art des Snobismus verbunden zu werden. Ich fände es viel besser, wenn die Oper junge Menschen ansprechen könnte. Ich habe keine Ahnung, wie man das erreichen kann. Vielleicht sollte man Kinder in der Schule entsprechend unterrichten. Ich bin immer enttäuscht, wenn ich jemanden sagen höre: "Ich mag keine Opern." Denn wenn ich zurückfrage, heißt es meistens: "Ich war noch nie in der Oper, aber ich mag sie nicht." Man sollte doch wenigstens einmal, nein, zweimal hingehen, bevor man beschließt, dass man die Oper nicht mag. Ich glaube, diese Ablehnung ist sehr in ihrem Snob-Ruf begründet.
Machen Sie sich gerne fein für die Oper?
Das hängt vom Haus ab. Wenn der Garderobenstandard hoch ist, ziehe ich mich angemessen an. Wenn der Standard eher lässig ist, kleide ich mich auch so. Ich bin so erzogen, dass man immer höflich sein soll. Teil dieser Höflichkeit ist, angemessen zu erscheinen. Das beinhaltet auch, gut auszusehen und sorgfältig gekleidet zu sein.
Was haben Sie für ein Gefühl nach einem gelungenen Opernabend?
In der "Poetik" spricht Aristoteles von Katharsis. Er sagt, wenn wir ein großes Drama, eine Tragödie sehen, reinigt uns das und erfüllt uns mit etwas anderem. Ich finde, dass Musik das tut. Gut gemachte Musik erfüllt mich so wie ein Gang ins Fitnessstudio andere auflädt. Ich finde Musik und großartigen Gesang so absolut aufregend und ergreifend, wie es nur wenige Dinge sind. Ich bin ein Musik- und Stimm-Junkie. Meine Reaktion auf Literatur, abgesehen von Poesie, ist anders, weniger heftig. Wenn Cecilia Bartoli auf der Bühne ist, gibt es niemanden auf dem Planeten, der dieses Charisma hat. Diese schiere, reine Freude kann niemand vortäuschen.
Sie sind ja ein richtiger Fan. Wie weit führt Sie diese Leidenschaft?
Letztes Jahr hat Cecilia Bartoli die Cleopatra in "Giulio Cesare" gesungen, dafür bin ich einen Monat lang nach Zürich gezogen und zu sämtlichen Proben und allen Aufführungen gegangen. Es ist Zauberei, sie singen zu sehen und zu hören.
Weibliche Rollen dürfen in der Oper nicht nur schön, sondern auch richtig böse sein. In der modernen Gesellschaft sind es dagegen vor allem Männer, denen ein ominöser Trieb zugestanden wird, der zu Gewalttaten führen kann. Wie stehen Sie dazu?
Ich weiß nicht, ob ich dem zustimme oder nicht. Aber die Verbrechensstatistik legt nahe, dass das wahr ist. Die überwältigende Mehrheit von Gewaltverbrechen in dieser Welt wird von Männern verübt, nicht von Frauen. Und die überwältigende Mehrheit der Opfer sind Frauen, nicht Männer. Aber es gibt auch viele böse Frauen. Frau Ceausescu ist so ein Fall, die war kein Sahneschnittchen.
Sehen Sie einen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Krimiautoren?
Man hört ja immer dieses Klischee, dass Frauen sensibler seien und sich deswegen besser in Menschen hineindenken könnten. Aber es gibt auch Madame Bovary und Anna Karenina, völlig realistische und glaubwürdige weibliche Figuren, die von Männern erschaffen wurden. Also: Männer können sich durchaus in die Geistes- und Gefühlswelt einer Frau hineinversetzen. Den Frauen gehört nicht der Markt des Verständnisses der menschlichen Psyche. Mir ist aufgefallen, dass bis vor etwa zehn Jahren die von Männern geschriebenen Krimis zu mehr Gewalt neigten als die Bücher von Frauen. Aber mittlerweile gibt es eine zunehmende Anzahl von Frauen, vor allem Amerikanerinnen, die Szenen mit wirklich grotesker Gewalt schreiben. Sie haben eine Art lustvolle, genießerische Haltung gegenüber körperlicher Gewalt, häufig sexueller Natur. Ich empfinde das als unangenehm, egal ob es von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde. Es gibt eine Art von pornografischer Aufmerksamkeit für körperlichen Schmerz, die ich sehr beunruhigend finde. Ich lese solche Bücher nicht mehr.
Was ist Ihr großes Thema?
Ich denke, es ist Verrat. Mir ist aufgefallen, dass in vielen Büchern die Figuren so tun, als seien sie besser, als sie sind. Sie verbergen etwas. Wie Iago setzen sie eine Maske der Freundschaft und des guten Benehmens auf, obwohl sie bloß Bösewichte sind. Claudius sagt irgendwo in "Hamlet": "Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein." Ich glaube, das ist wahr. Viele Leute lächeln und sind Verbrecher. Das ist gut für ein Buch, denn die Leser mögen es, einen ersten und zweiten Verdacht zu haben - und am Ende erfahren sie gern, dass sie schon vor den anderen Leuten aus dem Buch wussten, wer einer der Bösen ist.
Sie arbeiten seit einigen Jahren mit einem Barockensemble namens Il Complesso Barocco und unterstützen dessen Dirigenten Alan Curtis. Was reizt Sie daran?
Es macht mir Freude, miteinbezogen zu sein, obwohl ich keine Noten lesen kann. Zu sehen, wie aus diesem Blatt Papier, das ich nicht entziffern kann, etwas entsteht, zunächst auf dem Cembalo, dann mit den Sängern und schließlich mit dem gesamten Orchester... Alle arbeiten auf einem sehr hohen Niveau; zwei unserer Aufnahmen von Händel-Opern haben den Preis der deutschen Schallplattenkritik gewonnen. Ich finde Sängerinnen so magisch, schön und wie aus einer anderen Welt, dass es für mich berauschend ist, da am Rande zu stehen und diese Dinge wachsen zu hören. Das ist wirklich meine Leidenschaft.
Ist das Schreiben dann nur ein Beruf für Sie?
Nein, ich bin glücklich darüber, es macht großen Spaß und all das. Aber einen meiner Krimis mit einer Oper von Händel zu vergleichen, ist ein Akt des Irrsinns. Wir reden hier über Krimis! Und die Händel-Opern sind Monumente unserer Kultur.
Unter anderem schreiben Sie Texte für die CD-Booklets, wobei Sie mit Sinn für Humor an die Oper heran. Ist das Blasphemie?
Sie sollten mal hören, wenn ich mich über Religion lustig mache! Meine große Charakterschwäche ist, dass ich meinen Mund nicht halten kann. Wenn es eine Gelegenheit für etwas gibt, dass Amerikaner ‚wise ass remark' nennen, kann ich der Gelegenheit nicht widerstehen, sie auszusprechen. Sehr oft sage ich Dinge in der Absicht, witzig zu sein, aber die Leute finden das gar nicht lustig. Ich kann einfach nicht widerstehen. Das ist so, wie wenn man eine Sprüngli-Schokolade auf dem Tisch sieht: Man muss sie essen, auch wenn sie jemand anderem gehört und man das nicht tun sollte.