Referenzen einmal anders: eine Auswahl an Persönlichkeiten, mit denen ich gesprochen habe. Hinter besonders hervorgehobenen Namen verbirgt sich ein Auszug aus dem jeweiligen Interview.
Elizabeth Strout * Jason Wu * Malcolm McLaren * Yu Tsai * Hartmut Esslinger
David Wyndorf * Claus Kleber * Daniel Coyle * Fritz Pleitgen * James Frey
Jean Michel Jarre * Scott Weiland * Sibylle Berg * Jimmy Wales * DBC Pierre
Jutta Kleinschmidt * Cecilia Bartoli * Armin Rohde * Marilyn Manson * Donna Leon
Henry Rollins * Sinead O'Connor * Emily the Strange * Paul Frank * Jim Rakete
Iris Berben * Romain de Marchi * Götz Alsmann *
DBC Pierre: "Mein Instinkt war eine Zwangsneurose."
Auszug erschienen in Galore Vol. 28, 2007
16.03.2007, Köln. Den frühen Abend erklärt der Schriftsteller DBC Pierre zur blauen Stunde: Er bestellt einen Martini, ein zweiter soll sieben Minuten später serviert werden. Dabei bleibt es dann. Gut gelaunt erzählt er aus seinem Leben und steigt später von selbstgedrehten Zigaretten auf die Marke des Fotografen um.
Pierre, Sie sind ein weitgereister Mann. Als Sie an "Bunny und Blair" (1) arbeiteten, haben Sie zum Beispiel einige Zeit in Armenien verbracht. Warum ausgerechnet dort?
Eigentlich versuchte ich, an die tschetschenische Grenze zu gelangen - wegen eines Settings für "Bunny und Blair". Die meiste Recherche kann man ja jetzt im Internet machen, aber es wäre unehrlich, nicht selbst hinzufahren. Und die wichtigen Dinge sind Details, die man mit Papierarbeit ohnehin nicht herausfinden kann. Der Geruch, das Feeling eines Ortes.
Meinen Sie das mit dem Geruch wörtlich?
Ja, ganz buchstäblich. Es riecht dort nach Holzrauch. Von den Holzfeuern, ich war ja mitten im Winter dort. Holzrauch, alte Gewürze, rohes Fleisch. Solche Dinge findet man nicht über das Internet heraus. Ebenso wie die nicht-physischen Eigenschaften, die Gefühle, die einen an einem Ort überkommen. Es war sehr wichtig, in den Kaukasus zu reisen und ein Gefühl dafür zu bekommen.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Ich konnte es arrangieren, mit einem Programm von Ärzte Ohne Grenzen zu reisen. Denn es ist immer noch ziemlich gefährlich an der tschetschenischen Grenze. Doch kurz bevor wir losfahren wollten, gab es Ärger, eine Entführung in dieser Gegend, deswegen wollten sie mich nicht mehr mitnehmen. Es war einfach zu gefährlich. Also fuhren wir zur aserbaidschanisch-armenischen Grenze, wo es auch immer noch kleinere Konflikte gibt, aber vor allem ist diese Gegend ein Beispiel für die Nachwirkungen eines Kriegs. Über 15 Jahre nach dem Krieg gibt es dort immer noch Flüchtlinge, und nichts ist passiert. Niemand schickt sich an, ihnen zu helfen. Dort fuhren wir also hin, und ich war froh drum. Denn was für ein schönes, zivilisiertes, fantastisches Land!
Was war dort genauso, wie Sie es erwartet hatten?
Nichts. Es war völlig anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Na ja, ich hatte andererseits ja schon sehr viel recherchiert, und was sich dabei als sehr genau herausstellte, war das Post-Sowjet-Gefühl. Das bekommt man direkt bei der Ankunft. Erst kommt ein hochkultivierter British Airways-Flug, ganz gemütlich, es gibt geräucherten Lachs, Tee, Ingwerkekse, Musik und all so etwas. Um Mitternacht kommt man in Eriwan an, sinkt durch den Nebel aus eisiger Luft. Es waren minus 28 Grad, als ich ankam. Sie haben für die Landebahn ein Loch in eine zwei oder drei Meter dicke Schicht aus Eis und Schnee geschnitten. Dann landet das Flugzeug,und bevor es nach Taschkent weiterfliegt, verlässt es dich dort. Plötzlich sind überall Soldaten mit Maschinengewehren und Sowjet-Mützen, die Architektur ist voller grauem Beton, man hat wirklich das Gefühl, man wäre in der Sowjetunion der 60er oder 70er Jahre angekommen. Das ist interessant - und komisch: Man kommt da raus mit seiner Duty Free Bag und fühlt sich wie ein Vollidiot. Plötzlich ist man an einem ganz fremden, ungemütlichen Teil der Welt. Aber auf der anderen Seite war ich so verblüfft von Armenien.
Was hat Sie denn so begeistert?
Die Kultiviertheit! Sie haben natürlich große Probleme, aber die Vollkommenheit der Kultur und die unbeschreibliche Schönheit des Landes, selbst mitten im Winter, ist einfach außergewöhnlich. Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll. Sie haben Leoparden in Armenien, um Gottes Willen. Im Sommer gibt es Felder voller wilder Haselnüsse, Kirschen, Aprikosen. Weizen, wie wir ihn überall kennen, stammt von dort, ebenso wie Kirschen und Aprikosen. Und in Armenien gab es die erste christliche Kirche der Welt. Wenn man die Geschichte betrachtet und einem dann noch auffällt, wie viele Nachnamen auf -ian enden, wird einem klar, dass ein großer Prozentsatz der Genies der Vergangenheit Armenier waren. Wissenschaft, Kunst, überall spielt dieses winzig kleine Land eine Rolle, das über kein Öl oder Gas verfügt und mit seinen Nachbarn verfeindet ist. Mit der Türkei, mit Aserbaidschan ebenso. Es ist unglaublich traurig, wie viele Probleme sie haben, ihre neue Republik aufzubauen.
Das klingt fast nach einem Ort, an dem man gern Ferien machen möchte. Was können Sie denn über die andere Seite erzählen?
Als die Sowjetunion zusammenbrach, begann Armenien fast sofort Krieg mit Aserbaidschan. Nach einigen Jahren erklärten sie 1994 einen Waffenstillstand. Das ist eine ungemütliche Situation, es gibt immer noch gelegentlich Gefechte an den Grenzen. Aber der Krieg ist im Grunde seit Anfang der 90er vorbei. Doch noch heute sind einige der Flüchtlinge, die in dieser Zeit aus Aserbaidschan kamen, immer noch Flüchtlinge. Es gibt ganze Städte an der Grenze, die nur von Flüchtlingen bevölkert sind. Sie sind vernachlässigt und vergessen. Ich besuchte einige Dörfer, in denen etwa die Hälfte der Einwohner geistig zurückgeblieben waren. Eine Familie etwa, in der die Mutter geistig behindert ist, der Vater auch, und sie haben vier zurückgebliebene Kinder. Der Vater schlägt die Mutter und missbraucht alle vier Kinder sexuell, bis hin zum Kleinsten. Und wenn er das Haus verlässt, um sich zu betrinken, kommen Soldaten von der Grenze und missbrauchen Mutter und Kinder.
Wie viele Menschen leben dort unter solchen Bedingungen?
Das ist ein ziemlich gewöhnliches Porträt des Alltagslebens dort. Es gibt Null Prozent Arbeit, Die Arbeitslosenquote liegt buchstäblich bei hundert Prozent. Nicht ist passiert seit dem Krieg. Der Staat kann nichts tun. Ein großer Teil des Volkseinkommens stammt aus Übersee, von Armeniern, die Geld nach Hause schicken. Und es gibt populärere Krisen auf der Welt für die Wohlfahrtsorganisationen. Deswegen ist eigentlich niemand dort. Und das bei so einer schönen Kultur, auch einer sehr einladenden übrigens. Obwohl die Menschen bitterarm sind, wird man dort nicht ausgeraubt. Selbst in den Städten ist es sehr sicher. Auf jeder Straße wird man auf Kaffee, Schokolade und Brandy eingeladen. Es ist ein verlorenes Paradies.
Eigentlich waren Sie ja dort, um für Ihr Buch zu recherchieren. Wie konnten Sie Ihre Erlebnisse verarbeiten?
Ich gab meine eigene Erfahrung an Bunny und Blair weiter. Ich nahm etwa denselben Flug wie Bunny und Blair im Buch, genau so, wie ich es eben erzählt habe. Und es gibt beispielsweise eine Szene, wo eine Dame eine Rakete in ihrem Haus hat, die nicht hochgegangen ist. Das stammt von einer Situation, die ich mit eigenen Augen gesehen habe: Ein Herr hatte sich ein schönes, zweistöckiges Haus in der Nähe der Grenze gebaut und eine Rakete traf das Haus, ging durchs Dach, durch den Boden bis in den Keller, wo sie aber nicht explodierte. Also ist er mit seiner sechsköpfigen Familie in den Gartenschuppen gezogen, der ungefähr so groß ist wie ein Schrank, und dort leben sie. Denn in ihrem Haus ist eine Bombe, die noch losgehen könnte. Ich fragte ihn, wie lange sie schon so leben. Und er sagte: "Seit 13 Jahren". Ich sagte: "Meine Güte!" Aber er meinte nur: "Keine Sorge, ich finde schon jemanden, der das beseitigen kann." Nun, ich habe da kaum Hoffnung. Es ist so, als ob das Leben dort am ersten Kriegstag zum Stillstand kam und sich seitdem nichts bewegt hat.
Sie haben diese Eindrücke nicht nur für den Roman verwendet, sondern auch eine Reportage für ein Magazin darüber geschrieben. Was wird dem Kaukasus denn mehr Aufmerksamkeit bringen: Die Romanform oder die Reportage?
Die Reportage, unbedingt, es muss eine Dokumentation sein. Ich schrieb den ersten Entwurf des Romans, und darin geht es ja gar nicht um Hajastan, um Armenien, sondern um ein fiktives Land, aber dennoch ist ein bisschen von der Brutalität, die ich in Armenien sah, im Roman gelandet. Und an diesem Punkt hatte ich ein echtes Problem: Mancher mag einige der Szenen recht hart finden, in denen es um die Lebensqualität innerhalb eines Kriegsgebiets geht. Dazu kann ich nur sagen: Ich habe Ihnen nur einen Vorgeschmack davon gegeben, das waren vielleicht zehn Prozent dessen, wie es wirklich ist.
Können Sie ein Beispiel für etwas sagen, dass nicht im Roman gelandet ist?
Ich habe Fotos von einer schönen Frau. An dem Tag, an dem sie entschied, es sei Zeit, Aserbaidschan zu verlassen, sammelte sie ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und die vier Enkelkinder und hatte eine sehr kluge Idee. Sie dachte, die Aseris würden ihnen vielleicht auf der Straße auflauern, also hatte sie die Idee, vorauszufahren und ihre Familie in ein weiteres Auto zu setzen, so dass sie ihr in einem Sicherheitsabstand folgen würde. Dieses zweite Auto wurde in Aserbaidschan von Soldaten in Brand gesetzt, und alle sind darin verbrannt. Ihre gesamte Familie wurde in einem Augenblick ausgelöscht. Nur sie blieb am Leben und erreichte Armenien. Die Schrecken, die manche dieser Menschen erlebt haben, sind viel zu groß, um sie in diesem Buch unterzubringen. Diese Dinge mussten dann aber in einer Reportage verarbeitet werden, allein schon aus Respekt.
Heißt das generell, dass Fiktion sich für Sie manchmal wie eine Untertreibung anfühlt?
Das muss sie vielleicht sogar. Die Realität ist heute zu irre. Daran glaube ich felsenfest. Wir sind alle mit Fiktion, Filmen und Fernsehen aufgewachsen, und die Realität ist so lächerlich, so zufällig, dass man sie nicht in einem fiktionalen Werk aufschreiben kann, ohne unglaubwürdig zu werden.
Wie war das bei "Jesus von Texas" (2)?
Ich habe viel recherchiert, weil ich ein Bild davon zeichnen wollte, wie vernunftentleert der Süden der USA geworden war. Aber es musste glaubwürdig sein, es konnte keine komplette Farce werden. Und bei der Recherche hatte ich einige Tatsachen entdeckt, die ich nicht benutzen konnte, weil sie zu haarsträubend waren.
Zum Beispiel?
Der Vater eines Angeklagten, eines Teenagers, dem in Louisiana die Todesstrafe drohte, hatte beim Supreme Court Beschwerde eingelegte, um Änderungen im Rechtssystem zu erwirken. Und zwar weil die Staatsanwälte in diesem Prozess gegen seinen Sohn zu den Verhandlungsterminen mit Krawatten erschienen, die Bilder von Skeletten zeigten, von Galgen, vom Sensemann. Und das in einem Prozess, in dem der Junge technisch ja noch als unschuldig gilt. Außerdem gaben sie Partys, wenn sie eine Verurteilung erreicht hatten, und dabei überreichten sie sich gegenseitig Geschenke: gravierte Blöcke mit den Namen der Leute, die sie in ihren Gerichtsverhandlungen umgebracht hatten. Sie hatten ganze Sammlungen solcher Trophäen. Das ist Realität! Und ich dachte: Scheiße, das wäre eine großartige Geschichte, wenn die Anwälte im Buch beim Prozess gegen Vernon mit solchen Krawatten auftauchten. Aber die Leser würden denken: Ach komm, das ist doch echt überzogen.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
In einem Roman führen solche Szene dazu, dass die Leser denken: Na ja, wir wissen schon, dass es da schlimme Zustände gibt, aber so arg ist es doch auch wieder nicht. Meine Haltung ist deswegen: Die Welt ist heute zu überzogen, um in der Fiktion verwendet werden zu können. Wir sind schließlich an plausible Fiktion gewöhnt. Plausibilität ist aus dem wirklichen Leben aber verschwunden. Jetzt stecke ich in einem luftleeren Raum fest, wo ich, um etwas plausibel zu machen, Dinge erfinden muss. Das ist ganz schön komisch. Deswegen habe ich bei "Bunny und Blair" einiges absichtlich unplausibel gemacht, die siamesischen Zwillinge zum Beispiel. Denn das ist heute Realismus.
Kann Fiktion dann noch ehrlich sein?
Sie ist äußerst ehrlich in ihrem Spirit.
Können Sie mir den mal erklären?
Ja, der Spirit of Fiction: Es ist lustig, dass Sie ausgerechnet mich danach fragen, denn ich habe eine unehrliche Vergangenheit. Ehrlich, die ehrlichste Sache, die ich bis 2001 getan habe, war, dieses Buch zu schreiben. Ich muss da ein wenig ausholen: Für mich existiert das Leben auf mindestens zwei Ebenen. Es gibt die soziale Wahrheit, in der wir aktiv leben, und dann gibt es die wirkliche Wahrheit, die bstimmt ist von Psychologie, davon, wie wir wirklich fühlen und handeln. Um uns zu integrieren, leben wir auf einer Ebene der Höflichkeit, wir halten uns meistens zurück. Aber darunter liegt die wahre Welt der Impulse, Leidenschaften und Verrücktheit. Fiktion sollte dieser Welt gegenüber Ehrlichkeit zeigen, sie sollte die wahre Geschichte erzählen. Und nicht die offensichtliche Geschichte, die wir jeden Tag sehen können.
Und die wäre?
Sagen wir einmal, jemand hat ein sehr jugendliches, fast kindliches Gemüt und schaukelt gerne, ist aber schon ein 60-jähriger Mann. In der Nähe seiner Wohnung ist ein Park mit einem Spielplatz, und manchmal geht er dorthin und schaukelt. Weil er ein freier Mann ist und das eben eine seiner Schrullen ist. Wenn nun einem Kind auf diesem Spielplatz etwas passieren würde, würden alle Leute sagen: "Wir haben da einen 60-Jährigen auf der Schaukel gesehen." Und er würde verhaftet. Doch vor Gericht, und das ist genau das, was Vernon in "Jesus von Texas" lernte, respektiert man nur die Ebene der sozialen Wahrheit, nicht die Realität der Dinge. Ich denke sogar, dass diese beiden Bereiche sich immer weiter voneinander entfernen. Wir müssen immer mehr lügen. Über Moslems, über unsere Gefühle Fremden gegenüber, über unsere persönlichen Gewohnheiten und so weiter, nur damit wir sicher bleiben. Besonders in Großbritannien.
Welche Folgen hat das?
Dieser Mann aus unserem Beispiel kommt nun also zur Verhandlung, und er sagt: "Na, ich weiß auch nicht warum, aber ich schaukle eben gern, und ich hätte nicht gedacht, dass das ein Problem ist." Die Geschworenen müssen dann entscheiden, ob das plausibel ist. Sie sind aufgewachsen in einer Welt aus Fiktion, die auf Plausibilität hin konstruiert ist. Und sie finden, dass ein 60-Jähriger, der immer noch gern schaukelt, nicht plausibel ist. So wird er vermutlich verurteilt. Soviel zur Trennung dieser beiden Welten in der Realität. Fiktion sollte aber immer auf der realen Ebene verlaufen. Im wirklichen Leben sagt man seiner Schwiegermutter sehr höfliche Dinge. Aber in der Fiktion? Da schreibt man so etwas wie: "Sie kam wieder ins Zimmer, diese fette, hässliche Hexe." (lacht) Das erst macht es zum Vergnügen, das zu lesen. Und es macht auch Spaß, es zu schreiben. Ich habe gar keine Schwiegermutter, aber …
Gibt es dann auch zwei verschiedene Arten von Lügen?
Das wahre Leben ist doch voller Lügen! Und es gibt Lügen, die wir tatsächlich glauben. Man kann sich selbst belügen und man kann andere belügen. Das Problem, das ich sehe, ist nicht einmal das absichtliche Lügen, sondern die Möglichkeit, sich von einer falschen Vorstellung völlig vereinnahmen zu lassen. Was am Ende auch eine Lüge ist. Die größten Gefahren der Welt stammen von Leuten, die es von Herzen gut meinen, aber der falschen Idee aufgesessen sind und die Energie haben, sie zu verfolgen. Das ist bei weitem die größte Bedrohung der Freiheit.
Sie haben eine unehrliche Vergangenheit erwähnt. Welche Art Lüge war denn Ihre Spezialität?
Oh, ich war kein gewöhnlicher Lügner. Ich war jemand, der an eine andere Realität glaubte. Ernsthaft, die meiste Zeit über erschien mir meine Wirklichkeit völlig real, sie passte nur nicht zum Rest der Welt. (lacht)
War das eine schöne Realität?
Es war eine verzweifelte Realität. Ich brauchte die Täuschung, damit ich mich in sie flüchten konnte, weil ich mit allem anderen nicht zurechtkam. Und sie entwickelte sich über eine lange Zeit. Das ist etwas anderes, als wenn jemand in vollem Bewusstsein eine Lüge erzählt. Ich ging ja nicht hin und dachte mir: Ah, diesem Typen hier erzähle ich jetzt einfach mal Unfug. Ich lebte in einer Realität, die perfekt abgestimmt war auf Reichtum, Macht und große Freiheit. Der Ärger fing erst an, als all das verschwand. Ich wuchs in einer sehr reichen Familie auf, die an einem Tag ihr ganzes Vermögen verlor. Mein Vater war tot, und als mexikanischer Teenager sagte mir das Testosteron in mir, dass es meine Aufgabe sei, jetzt der Mann im Haus zu sein und die Frauen in meiner Familie glücklich und zufrieden zu halten. Das nahm ich sehr ernst. Aber ich hatte überhaupt keine Ausbildung, keine Aussichten auf einen Job, denn ich war ja für nichts qualifiziert. Ich konnte zeichnen, ich war aber kein großer Künstler. Das Problem daran ist, dass die Welt in meinem Kopf ganz anders aussah, da war ich großartig. Diese ganze Welt war eine Lüge.
Sie haben, um Ihre Scheinwelt zu bewahren, Schulden angehäuft und selbst gute Freunde um viel Geld betrogen. Wie hat dieses Leben geendet?
Das ist ganz schön verzwickt. Ich musste das alles entwirren, aber das geschah erst, nachdem diese ganze Welt um mich herum zusammengebrochen war. Und einige sehr gute Leute mich unter ihre Fittiche nahmen und mich deprogrammierten. Sie sagten: Die Wahrheit ist, dass du erstens kein Geld hast, sondern sogar ein negatives Vermögen, nämlich hunderttausende Dollar Schulden. Und zweitens hast du noch nie einen Job gehabt, und du bist auch für überhaupt nichts qualifiziert. Ich könnte höchstens eine Arbeit in der Fabrik finden oder im Supermarkt. Ich hätte schon eine gewisse Intelligenz und könne zumindest etwas Einfaches arbeiten, lernen und meinen Weg nach oben erarbeiten. Zurück in die wirkliche Welt. Das alles war erst möglich, nachdem ich akzeptiert hatte, dass ich nichts hatte, gar nichts, und auch begriff, wie ich in diese Situation geraten war. Denn ich lebte ja in einer ganz anderen Welt, auch wenn sie einmal als reale Welt begonnen hatte, als Sohn eines mächtigen, reichen Ausländers in Mexiko City, in einer Welt voller Freiheit und Macht in einem Land ohne Regeln. Wo ich Immunität bei der Polizei genoss, Probleme gab es nicht.
Kürzlich sind Sie wieder in Mexiko City gewesen. Wie war es, zurückzukehren?
Sehr angenehm. Eine BBC-Filmcrew hatte mich dorthin geflogen, sie wollten meine Vergangenheit erforschen. Und sie hätte es so gern gehabt, dass sich dort inzwischen alles radikal verändert hat. Nichts sollte so sein wie früher. Aber als ich zurückkam, war alles noch genauso wie vorher. Es gab sogar Kneipen und Restaurants mit denselben Kellnern wie vor 20 Jahren, die sich auch noch an mich erinnerten. Das war so, als wäre ich nur eine Woche fort gewesen.
Haben sich die Leute gefreut, Sie wiederzusehen?
Nun, sie erinnerten sich eher anekdotisch an mich: "Sie waren doch der …" Aber ich habe mich damit sehr wohlgefühlt, es fühlt sich immer noch wie zu Hause an.
Wie sehen Sie Ihre Vergangenheit heute?
Ich sehe die wahre Gefahr dahinter. Seit einem halben Jahrhundert leben wir in einer Kultur, die sagt: Vertraue deinen Instinkten. Aber wenn man in einer Parallelwelt lebt, verkleidet sich diese psychologische Verdrehtheit ganz leicht als Instinkt. Man hat dieses Bauchgefühl und meint, etwas um jeden Preis tun zu müssen. Weil ja jeder sagt, man solle seinem Gefühl folgen. Aber das Problem ist: Der Instinkt ist falsch. Es ist eine Zwangsneurose.
Wohin hat diese Erkenntnis Sie gebracht?
Ich konnte nach der Therapie selten Arbeit finden. Denn nachdem mein ganzes Leben zusammengebrochen war, fehlte mir auch das verrückte Selbstvertrauen, das ich besessen hatte. Wenn man nun aber zu einem Bewerbungsgespräch geht, braucht man ein bisschen Selbstvertrauen. Da sitzt man im Vorzimmer mit ein paar anderen Kandidaten, die denken, sie schaffen das. Das merkte ich natürlich, und so fühlte ich mich klein und bekam den Job nicht. Schließlich wollte ich auf einem ganz anderen Niveau neu beginnen, ich war sehr bescheiden und sehr ehrlich. Zu ehrlich. Die meisten stellen sich in Lebensläufen ja im besten Lichte dar, und ich hatte aufgehört, das zu tun. Ich sagte stattdessen, welche schlimmen Dinge ich getan hatte. Wie ein Idiot. Am Ende wurde ich zornig, weil man mich deprogrammiert hatte von diesem Gefühl, irgendwie ein Recht auf alles zu haben. Als junger Mann dachte ich, ich hätte ein Recht darauf, Dinge zu tun, Dinge zu haben. Ich hatte das Selbstvertrauen, ich dachte, ich müsste positiv denken, mich groß und mächtig fühlen und meinen, alles möglich einfach verdient zu haben. Genau das hat mich aber in die größten Schwierigkeiten gebracht. Mein Zorn kam Ende der 90er in einem Moment hoch, wo ich mir in London die britische und amerikanische Kultur anschaute und erkannte: Die ganze Kultur hat jetzt diese Scheißkrankheit, die ich hatte. Absolut alle. Und sie benutzen es in der Werbung: "Weil Sie es sich wert sind!"
Welche Auswirkungen sehen Sie?
Niemand möchte mehr Krankenwagenfahrer werden, jeder wird jetzt ein Popstar. Die Geschäftswelt, der Kapitalismus nährt sich von dieser Krankheit, weil sie uns weismacht, dass wir das alles wert sind. Als habe man ein menschliches Grundrecht darauf, mehr zu bekommen als andere und absolut nicht behindert zu werden auf dem eigenen Weg. Die Krankheit individueller Ermächtigung hat alles zerstört, was die Gesellschaft zusammengehalten hat. Die Ehe ist nun völlig am Ende, weil ja jeder Ehepartner das Recht hat, immer noch Scheiß zu bauen. Die Welt der Kompromisse ist tot. Das zu entdecken und dann plötzlich noch diese Schulmassaker im Fernsehen zu sehen, löste in mir das Gefühl aus, dass diese Kinder die ersten Bläschen sind, die zu platzen beginnen. Sie sind keine reichen Kinder, sie sind nicht gutaussehend, keine Sportler, nicht intellektuell, vermutlich haben sie auch nicht die richtigen Klamotten an - sie sind verloren in diesem System. Sie werden wie Seifenblasen zerplatzen, und sie sind nicht reif genug, um zu wissen, was da passiert.
Das hat Sie ganz schön aufgeregt.
Ich bin nicht einmal ein richtiger Antikapitalist, ich esse Hamburger, wissen Sie, und ich fahre gern Auto. Der Punkt ist: Der Druck war offenbar zu groß und sie hatten nichts, wohin sie sich wenden konnten. Und mir hatte man gesagt, ich sei gerade gut genug für Fabrikarbeit, wo ich doch die ganze Zeit gedacht hatte, ich sei ein hochtrabender Künstler. Ich war so zornig, dass ich eine Seite in Vernons Tonfall schrieb. Seine Stimme war aus irgendeinem Grunde sofort da, es war die Stimme eines dieser Kinder aus den Massaker-Geschichten in den Nachrichten. Ich machte damit weiter. Es liegt natürlich eine kuriose Ironie darin, dass ich erst dann, als ich erkannte, dass ich in Wirklichkeit wertlos bin, überhaupt erstmals etwas Nützliches tat. Deshalb bin ich sehr vorsichtig, den Erfolg des Buchs zu akzeptieren.
Zur Person
Der Sohn eines britischen Genetikers wurde als Peter "Pierre" Warren Finlay 1961 in Australien geboren. Wenige Jahre später siedelte die Familie nach Mexiko City um, wo der Heranwachsende sich wilden Partys, illegalen Autorennen und Drogenexperimenten hingab. Nach dem Tod seines Vaters verbrachte er seine Zeit u.a. mit einem ehrgeizigen, nie verwirklichten Filmprojekt, als Schatzsucher,Fotograf und Schmuggler. Nachdem man eine narzisstische Persönlichkeitsstörung festgestellt hatte, begann er Anfang der 90er Jahre eine Therapie. DBC steht für "dirty but clean". Für sein Romandebüt "Jesus von Texas" bekam er 2003 den Booker Prize. Finlay lebt in Irland und plant derzeit einen Umzug nach Berlin.
(1) Bunny und Blair (Originaltitel: Ludmilla's Broken English)
Ein Setting des Romans ist London in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Terroranschläge zur Tagesordnung gehören. Dort leben die siamesischen Zwillinge Bunny und Blair, kurz nachdem sie erst als Mittdreißiger voneinander getrennt wurden. Ludmilla dagegen tritt im zweiten Setting auf: Sie haust mit ihrer Familie im fiktiven Kaukasus-Staat Ublilsk, von Armut, Hunger, familiärer Gewalt und militärischer Bedrohung gezeichnet. Beide Welten lässt DBC Pierre aufeinanderknallen - das furiose Ende wird einer der Zwillinge nicht überleben.
(2) Jesus von Texas (Originaltitel: Vernon God Litte)
In bissigem Ton und einer schnoddrigen, direkten Jugendsprache lässt DBC Pierre seine Hauptfigur erzählen. Seine Geschichte setzt eine Woche nach einem Schulmassaker im fiktiven Martirio, Texas ein: Vernon Little wird bei der Polizei verhört. Er ist unschuldig, war aber mit dem Amokläufer Jesus Navarro befreundet. Die Stadt lechzt nach einem Sündenbock und sonnt sich in der Aufmerksamkeit der Medien, überambitionierte Polizisten und falsche Beweise bringen Vernon schließlich in die Todeszelle.