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Traurige Musik:
Glück im Unglück
Bittersüß und melancholisch, hoffnungslos und sterbenselend: Traurige Musik drückt für jeden etwas anderes aus. Auf der Suche nach den traurigsten Liedern der Welt stellt sich heraus, dass jede Zusammenstellung willkürlich ist; Traurigkeit hat viele Namen und Gesichter. Dennoch fällt jedem Musik ein, die diesen Gefühlszustand beschreibt - oder wohltuend begleitet. Und es gibt gute Gründe dafür, warum vom Klang des verzagten Herzen eine solche Faszination ausgeht.
Wenn man verliebt ist, scheinen sich die Sinne zu weiten. Für Verliebte ist der Werbejingle im viel zu früh angesprungenen Radiowecker eine versteckte Botschaften der Freude, selbst das Piepen des Handyalarms hat nie lieblicher den Tag eingeläutet. Ganz anders graut der Morgen in den bleiernen Zeiten nach dem Ende einer Liebe, wenn jedes Geräusch wie eine Belästigung erscheint, die den Verlassenen aus dem tröstlichen Vergessen reißt und an die eigene, einsame, schmerzliche Existenz erinnert. Aber es gibt Ausnahmen.
Wenn etwa Gram Parsons und Emmylou Harris im Duett "Love Hurts" anstimmen, findet mancher plötzlich einen mitfühlenden Soundtrack für die grausam ins Hirn gebrannten Bilder vom Trennungssex im Morgengrauen nach einer letzten gemeinsamen, von endloser Diskussion bestimmter Nacht. Zwar darf sich anschließend niemand aus dem Freundeskreis erdreisten zu behaupten, er wisse, wie man sich nun fühle - wenn aber Michel Sardou in"Je suis malade" davon singt, wie er als Verlassener krank vor Sehnsucht ist, hat der frisch Getrennte einen Seelenverwandten gefunden. Und auch das Klingklang von "No Surprises" (Radiohead) wird zur willkommenen Begleitung bei den ersten Versuchen, auch allein einschlafen zu können.
Das alles kommt nicht von ungefähr: Wer in deprimierter Stimmung traurige Melodien hört, erlebe eine positive Emotionalität, so der Befund des Psychologen Marcel Zentner. Zusammen mit seinem Kollegen Klaus Scherer erforscht er an der Universität Genf die Wirkung von Musik auf Emotionen und stellt fest: Es ist eine angenehme Traurigkeit, die von Musik ausgeht, und in einem schwermütigen Moment vermittelt sie damit ein Stück Lebensqualität. Das gilt jedoch nicht für jeden Menschen. Einige schütteln darüber den Kopf und fragen, wie man denn bitteschön ausgerechnet dann traurige Musik hören kann, wenn es einem ohnehin schon schlecht geht. Immerhin versuchen Umfragen zufolge 75 Prozent der Menschen, sich mit Musik aufzuheitern, wenn sie in schlechter Stimmung sind. Andererseits würde niemand auf den Gedanken kommen, bei einer Beerdigung "Let Me Entertain You" von Robbie Williams aufzulegen oder statt Chopins "Trauermarsch" lieber Beethovens "Freude schöner Götterfunken" spielen zu lassen - denn Trauer hat ihren eigenen Klang.
Der Hannoveraner Psychologie Reinhard Kopiez, der unter anderem die ‚Gänsehauteffekte' von Musik erforscht, kann sich sogar eine heilsame Funktion trauriger Musik vorstellen: Musik und Schmerz werden zu einer intensiven Erfahrung; die Traurigkeit läuft nicht mehr ins Leere, vielmehr findet sich etwas, woran man sie festmachen kann.
Um den Traurigkeitswert von Musik zu ermitteln, fragten Zentner und Scherer eine Reihe von Versuchspersonen, welche Stimmungen bestimmte Stücke bei ihnen hervorrufen. Unter 32 klassischen Stücken empfanden die Befragten "Kol Nildei", Max Bruchs Adagio über hebräische Melodien, gespielt von Violoncello, Harfe und Orchester, als das traurigste. Ihm folgen das Adagio für Streicher von Samuel Barber, das Adagio g-moll von Tomaso Albinoni sowie Mozarts Adagio in fis-moll aus dem 2. Satz des Klavierkonzerts Nr. 23. All diese getragenen Stücke kommen ohne Worte aus - ein Indiz dafür, dass es keine hineininterpretierte Bedeutung braucht, mit der man sein persönliches Tal der Tränen verknüpfen kann. Musik allein kann traurig wirken.
Verzweiflungbringt aber nicht nur Tränen mit sich, sondern auch Wut. Das Aufbegehren gegen das jüngst empfundene Elend kann nahezu biblische Ausmaße annehmen: Vater, Vater, warum hast du mich verlassen? Die selbstquälerische Frage nach dem Warum ist bei jedem Verlust allgegenwärtig - und giert nach Pathos. Diese Nähe der Emotionen spiegelt sich in der Musik wider. So greift mancher vom Leben Gebeutelte eben zum heroischen "Heart Of Steel" von Manowar, weil er sich ein ebensolches gerade wünscht, oder er schluckt tapfer seine Tränen zu den Klängen von Slayers "Die By The Sword".
Es sind nicht nur die unterschiedlichen Geschmäcker, die es unmöglich machen, einen allgemeingültigen Kanon der traurigen Musik zu finden. Traurige Musik ist auch eine Frage der Wahrnehmung. "Perfect Day" von Lou Reed zum Beispiel ist, je nach Stimmungslage, mal eine Hymne an ein gigantisches Wochenende, mal ein Klagelied auf das Unerreichbare - und das, obwohl der Song tatsächlich weder das eine noch das andere ist: Der Song zeichnet ein Bild von Reeds Heroinsucht. Und selbst wenn man sich auf eine Deutung einigen kann, bleibt ein Lied nicht einfach, was es ist. Was bei Sonnenschein betrachtet vielleicht noch ein schönes, ruhiges Stück war, tropft im November sychron mit dem tagelangen Regen wie bittere Medizin ins Ohr.
Es wäre ein leichtes, nicht nur bei der Wahrnehmung von Musik, sondern auch bei ihrer Entstehung die dunkle Jahreszeit ins Spiel zu bringen. Im kalten Russland bricht sich die Schwermut in entsprechenden Klängen Bahn, aus der russischen Seele schöpften etwa Tschaikowsky und Schostakowitsch ihr schwermütiges Kapital. Doch es gibt ein vom Wetter unabhängiges Bedürfnis nach bittersüßen Klängen: Der Fado, ein furchtbar trauriger Chansonstil mit Versen voller unerfüllter Sehnsucht, hat seinen Ursprung im von der Sonne verwöhnten Portugal. Dort findet man einen Begriff für eine ganz spezielle Traurigkeit, der beinahe unübersetzbar erscheint: Saudade. Er beschreibt eine Trauer an und für sich; ohne Liebeskummer, Verlust oder verschlossene Türen. Manchmal ist man eben ohne erkennbaren Grund traurig und voller Weltschmerz, Melancholie, Schwermut. Die Zeit wird zur zähen Masse, man kann die Welt dort draußen sehen, aber nicht fühlen. Musik kann diese Barriere durchdringen, denn sie kommt von außen und zielt nach innen. Man hat den Blues - und man hört ihn auch.
Der Kunstphilosoph Stephen Davies findet auf die Frage, warum man überhaupt Musik hört, die einen traurig macht, eine einfache Antwort: Trauern macht Spaß. So wie viele Menschen Lust an der Angst in der Achterbahn oder am Ekel der Zombie-Filme haben, wird die Wirkung der traurigen Musik zur Freude am eigenen Elend. Und auch wenn kaum jemand zugibt, dass er zuweilen gern leidet, ist es kaum vorstellbar, dass bei einem Konzert von The Cure jemand ruft: "Nein, Schluss jetzt! Nach acht Jahren Therapie geht es mir endlich gut - das macht ihr mir nicht wieder kaputt!"
Die Welt wird nicht gut durch eine Ode an die Freude - und nicht besser durch einen Protestsong. Genau so wenig geht es dem Menschen schlechter, wenn er zu viel niederschmetternde Cellostücke in Moll hört. Traurige Musik bewältigt den Kummer - und sei es nur, weil man sich nach drei Stunden musikalischen Trauermarsches mit seinem Selbstmitleid auf die Nerven geht und sein Unglück relativiert. Vor allem aber ist traurige Musik erbaulich. Sie unterhält auf ihre ganz eigene Art. Denn Glück ist zwar das, wonach der Mensch strebt. Aber spätestens, wenn er es hat, merkt er meist: Pures Glück allein ist sterbenslangweilig.