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Entschuldigung, ich muss Sie warten lassen.
Asli Sevindim für ein Porträt tagelang auf den Fersen.
Zwanzig10 | 05.2008
Entschuldigung, ich muss Sie warten lassen.
Asli Sevindim ist künstlerische Direktorin des Themenfelds "Stadt der Kulturen" bei der Ruhr.2010 GmbH. Und TV-Journalistin. Und Buchautorin. Und deswegen immer unterwegs. Und mit einem Terminplan ausgestattet, in dem es schon mal um Sekunden geht. Reportage über eine Frau in Höchstgeschwindigkeit, auf die auch der Präsident des Deutschen Bundestages schon warten musste.
Frau Sevindim kommt zu spät. Eigentlich immer. Ihr Terminkalender ist einfach zu voll. Und die Autobahnen auch. "Ich habe die Vollsperrung der A40 schon einmal versucht, und es ist mir in Teilen auch gelungen", sagt Asli Sevendim, als sie einen vollen Saal und den Präsidenten des Deutschen Bundestages warten läßt. Den Lacher hat sie bei denen , die die Anspielung auf ein Projekt der Kulturhauptstadt verstehen, die Party auf der A 40. Ein paar Tage später gibt ihr Auto auf der Zoobrücke in Köln den Geist auf. Pannendienst, Taxi, Anrufe bei Regie und Maskenbildnerin, im letzten Moment steht sie als Live-Reporterin mitten im Karneval vor der Kamera.
Die künstlerische Direktorin des Themenfelds "Stadt der Kulturen" ist schnell im Kopf. Und in der Eile manchmal zu schnell. Als die freie Kulturszene 2007 in der Essener Zeche Carl über ihren Anteil am Kulturhauptstadtjahr diskutiert, rutscht ihr die Bemerkung heraus, allein von der Lektüre so mancher der bisher eingereichten Projektvorschläge bekäme sie Pickel. Verschwommenes Stoppschild im Kopf übersehen, kann passieren.
Gemessen an ihrem Tempo, passierten ihr sehr wenig Ausrutscher. Ohenhin hat man es bei dem Projekt Kulturhauptstadt 2010 im Moment noch mit einer unübersichtlichen Gemengelage zu tun, häufig mit gekränkten Eitelkeiten. Sevindim bemüht sich, das Ganze sportlich zu sehen.Sport hätte ein Schwerpunktthema ihrer journalistischen Laufbahn werden können. Asli Sevindim verfolgt alle möglichen Arten von Sport, taucht leidenschaftlich gern und ist leidgeplagter Fan des MSV Duisburg. Aber andere Themen, so sagt sie, waren dann doch schneller. Nur ihr Einstieg in die 2010-Arbeit hat sich langsam entwickelt. Die Frage, wie das Thema Migration im Kulturhauptstadtjahr behandelt werden könnte, bewegt bereits Ende 2004 viele interkulturelle Initiativen. In dieser Szene ist Asli Sevindim bekannt. Seit langem ist sie etwa bei der Gesellschaft für deutsch-türkischen Dialog aktiv, die unter anderem Ausstellungen und Literaturprojekte organisiert.
Zusammen mit dem Mülheimer Ringlokschuppen und den Essener Katakomben gründet dieser Verein dann Melez, ein Festival der Kulturen mit Musik, Theater und Tanz - heute unter den Fittichen der Ruhr.2010. Man wendet sich damit an Oliver Scheytt, es fällt den richtigen Leuten auf, wie energisch Asli Sevindim sich engagiert. Bald gehört sie zum Inner Circle, legt bei der Präsentation in Brüssel einen knackigen Kurzvortrag hin. Reden kann sie perfekt.
Bereits als Schülerin begann sie beim Duisburger Bürgerfunk. Beim Lokalradio moderiert sie unter anderem türkischsprachige Sendungen, dann geht es zum WDR, als dieser im Jahr 1998 das "Funkhaus Europa" startet. Bei dessen Fernsehableger "Cosmo TV" ist Sevindim mit im Boot, von dort ist es dann nur ein Hüpfer zur "Aktuellen Stunde". Die moderiert sie seit Februar 2006 zusammen mit Martin von Mauschwitz.
Nebenbei sitzt sie im Kuratorium des Essener Zentrums für Türkeistudien und wurde in den Integrationsbeirat des Landes NRW berufen. Nimmt man noch hinzu, dass sie 2005 ein Buch mit dem Titel "Candlelight Döner - Geschichten über meine deutsch-türkische Familie" veröffentlichte, dann erscheint die 34-Jährige als Prototyp des Begriffs: Karrierefrau. Und zwar eine, die ihre türkische Abstammung als zusätzliches Sprungbrett zu nutzen weiß.
"Von außen betrachtet sieht das so aus, da spricht man von Karriere und so weiter", sagt Sevindim. "Aber das sind einfach nicht meine Begriffe. Jeder macht das, was ihm behagt, was er kann, was ihm ermöglicht wird." Auch Stolz sei keine Kategorie für sie. Trotzdem ist Asli Sevindim eine, die es geschafft hat. Manche sagen sogar, eine, die es "da raus" geschafft hat. Damit meinen sie: aus Duisburg-Marxloh.
Es ist ein Stadtteil mit hohem Ausländeranteil, als sozialer Brennpunkt geschmäht, der in einem Atemzug mit Berlin-Kreuzberg genannt wird. Die Weseler Straße ist zum Mekka für türkische Hochzeitspaare geworden, mit Läden voller Hochzeits- und Abendkleidern, maßgeschneiderten Anzügen, Schmuck und Dekoration. "Das sind Fachgeschäfte", sagt Sevindim sehr bestimmt. Ihr eigenes Brautkleid stammte dennoch nicht hierher. Türkische Hochzeit hin oder her: All die Schleifchen, Rüschen und Stickereien aus Marxloh treffen nicht ihren Geschmack.
Auf dem Marxloher Marktplatz begutachten zwei Kopftuchträgerinnen T-Shirts mit Tierdrucken und karierte BHs, gegenüber liegen Meisenknödel und loses Tierfutter zum Selbermischen, daneben Gemüse. Hier hat Sevindim früher mit ihrer Mutter eingekauft. Einen Block weiter gibt es noch die Eisdiele, in der sie manche Freistunde vertrödelte. Viele andere Geschäfte gibt es längst nicht mehr. Eine Straßenbahn fährt vorbei. Zum Einkaufen in die Innenstadt zu fahren, war damals eine große Sache. Heute pendelt Sevindim beruflich zwischen Essen, Düsseldorf und Köln, aber nach Marxloh kommt sie immer wieder zurück. Sie hat Freunde hier. Und sie will nicht den Blick dafür verlieren, dass es auch andere Welten gibt als die, in der sie lebt.
Schönreden will sie den Stadtteil nicht. Aber sie wird wütend, wenn jemand sagt, Marxloh sei das letzte Loch. "Hier wohnen Menschen!", ruft sie. "Menschen, die ihre Kinder in den Kindergarten bringen, die tun, was andere auch tun." Aus einem Eckladen kommt ein dunkelhaariges Paar, daneben lockt ein Telefonshop mit günstigen Auslandstarifen. Gegenüber hängt ein Plakat an einer fensterlosen Supermarktfassade; die Werbung für eine Website, auf der man Action-Abenteuer buchen kann, wirkt seltsam deplaziert. "Oh, das muss ich unbedingt anschauen", sagt Sevindim. Ironie? Mitnichten. "Die haben bestimmt auch Autorennen im Angebot." Das würde sie gern einmal machen. Versucht hat sie es bereits - und für kurze Zeit keinen Führerschein mehr gehabt.
Manchmal beschwert sich jemand bei Sevindim: Jungs, denen das Testosteron aus den Ohren tropft, parkten hier in Marxloh mit ihren BMWs in der zweiten Reihe, aber wenn man sie darauf anspräche, sei man gleich ein Rassist. Genau diese Haltung ist Asli Sevindim im Gedächtnis geblieben von dem Tag, an dem sie die TV-Diskussion moderierte, die auf die umstrittene Ausstrahlung des Spielfilms "Wut" folgte. Sie hat lange gebraucht, um zu verstehen, warum dieser Film als Tabubruch wahrgenommen wurde - schließlich tauchten Türken in Film und Fernsehen schon häufiger als die Bösen auf, als Drogendealer oder Frauenverklopper.
"Viele Menschen haben einen Knoten im Kopf", sagt Sevindim. Sie deutet ihn als vorauseilenden Gehorsam der Marke: Wenn ich das Thema diskutiere, könnte man ja schon meinen, dass ich ausländerfeindlich bin. "Das kann man erst einmal positiv auslegen: Diese Leute wollen da nichts verkehrt machen. Auf der anderen Seite frage ich mich: Wie bescheuert muss man sein, wenn man bestimmte Dinge nicht ansprechen kann?" Ihr Standardbeispiel dazu ist ein Türke, der seine Frau schlägt. Das, so meint sie, geschähe wohl kaum, weil er ein Türke sei: "Das tut er, weil er ein Arschloch ist." Es ist das einzige Mal, dass Asli Sevindim ein Kraftausdruck über die Lippen kommt.
Dabei liebt sie klare Worte. Hochkultur oder Massenkultur, diese Frage sei nicht entscheidend für die Ausswahl der Projekte der Kulturhauptstadt 2010, meint sie: Am Melez Festival liegt ihr ein Streetart-Projekt am Herzen. Begeistert erzählt sie, dass HipHop nicht nur für Jugendliche mit Halbmast- Hosen interessant sei. Der eigene Geschmack, so Sevindims Credo, darf die Programmplanung nicht bestimmen. Ebensowenig wie die eigene Definition von Kultur. "Wenn es um Qualität geht, ist die Frage sehr wichtig, ob etwas Kunst ist oder nicht. Soll etwas existenziell sein und Auseinandersetzung darstellen, dann muss man diesem Anspruch genügen. Aber es gibt auch den Faktor Unterhaltung, und den schätze ich sehr, sehr hoch ein."
So energisch war Asli Sevindim nicht immer. Sie war ein stilles Kind. So still, dass ihre Mutter heute noch behauptet, man habe sie als Baby nicht einmal weinen hören. Noch mit 12, 13 Jahren verbringt Sevindim ihre Zeit vor allem mit Büchern, während ihre Klassenkameraden die Radio-Charts diskutieren. "Ich dachte: Wovon reden die eigentlich?", erinnert sich Sevindim. Ihr Vater überlässt ihr ein kleines Radio, das er vorher zur Arbeit mitgenommen hat. Es ist einsam oben auf dem Kran, den er bei Thyssen bedient.
In diesem Radio hört seine Älteste nun zum ersten Mal Jimi Hendrix: "Musik hat mir eine irre Welt eröffnet. Gerade Musik wie die von Hendrix hat ja soziale Komponenten, da sind Sie schnell in Woodstock, bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, das geht holterdipolter." Beim Stöbern in der Bücherei fällt ihr kurz darauf ein Band von Martin Luther King in die Hände, und sie beginnt, sich mit gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Später studiert sie Politikwissenschaft. Sie glaubt daran, dass Veränderung möglich ist. Besonders in Integrationsfragen scheut sie keine noch so unbequeme Auseinandersetzung - ohne politisch korrekte Prinzipienreiterei.
Sicherlich könnte sie ellenlange Vorträge halten darüber, dass Kopftücher in der Türkei kein Zwang sind oder dass der Karikaturenstreit nicht bedeutet, kritische Bilder seien den Muslimen fremd. Aber das tut sie nicht, jedenfalls nicht ungefragt. Natürlich kann man auch Asli Sevindim die Gretchenfrage stellen. "Ich habe eine religiöse Erziehung genossen in dem Sinne, dass ich gelernt habe, was zum Islam dazugehört. Aber in meiner Familie wird Religion als Privatsache gehandhabt. Wir neigen nicht zur Gruppenbildung", sagt sie. Religion spielt für die Sunnitin ungefähr dieselbe Rolle wie für Christen, die allenfalls zu Weihnachten eine Kirche betreten. Auch die kennt Sevindim - sie ist in einen katholischen Kindergarten gegangen.
Mit praktischer Erfahrung ist auch ihr Interesse an Gesellschaftsfragen unterfüttert. Jahrelang hat sie sich etwa dafür eingesetzt, dass in der Alten Feuerwache in Duisburg-Hochfeld ein Kulturzentrum entsteht. 2007 wurde es eröffnet, Arbeit macht es immer noch. Aber dieses Wochenende ist sie rein privat dort, um eine Veranstaltung zu besuchen.
In der Woche darauf zieht das Tempo noch einmal an. Sevindim hat Dienst bei der "Aktuellen Stunde", und das bedeutet diesmal: Morgens zur Jour Fixe mit ihrem 2010-Team, dann nach Düsseldorf zum WDR. Vor der Redaktionssitzung rauscht sie in die Kantine, um mit Thomas Laue, Chefdramaturg am Schauspiel Essen, die Eckdaten eines möglichen Projekts zu definieren. Danach steigt sie in einen Fahrstuhl, der wie der Gegenpol zu Sevindims Terminkalender wirkt: Mit zen-artiger Gelassenheit schwebt er dahin. Im Laufschritt geht es ins Büro 3055, sie begrüßt Martin von Mauschwitz, hängt ihre Kleidung für die Sendung in den Schrank und eilt zur Redaktionssitzung. Danach beginnen beide, die geplanten Themen untereinander aufzuteilen und ihre Moderationstexte zu schreiben. Beim Tippen ist von Mauschwitz schneller. Er nutzt alle zehn Finger, sie hingegen nur zwei.
In ihrem Büro hört man eine ganze Weile lang nur verhaltene Geräusche: Tastenklappern, Papierrascheln und Gemurmel. Asli Sevindim schreibt, hält inne, liest, schreibt weiter, spricht ganz leise den Text mit. Ein Kollege unterbricht sie mit der Frage, wo eines der Bänder mit den Einspielern geblieben sei, sie stutzt, antwortet, und schreibt ohne Zögern an derselben Stelle weiter, an der sie gestoppt wurde. Sekunden später geht sie ans klingelnde Handy und ist sofort im Thema. Zwischendurch übersetzt sie vom Bildmaterial noch rasch die Rede eines türkischen Politikers, damit von Mauschwitz in der Sendung den entsprechenden Wortlaut synchronisieren kann.
Plötzlich springt sie auf, greift im Vorbeigehen einen Stapel Kopien und einen quietschgelben Textmarker, schon ist sie an der Tür zum Treppenhaus, eilt drei Stockwerke tiefer und verschwindet in der Maske. Ein paar Zeilen kann sie lesen, dann soll sie das Kinn recken, damit die Visagistin das Dekolletee abpudern kann. In Sekunden erfasst Sevindim ein weiteres Stück des Textes, lässt den Stift über zwei Zeilen sausen. Und noch ein Absatz. Die nächste Kopie. Schließlich funktioniert auch das Hauruckverfahren nicht mehr: Als die Augenpartie geschminkt wird, müssen die Lider geschlossen werden. Sevindims Kopf ist auf die Nackenstütze gelehnt, ihr Gesicht liegt glatt und reglos da, so friedlich, als hielte sie einen Schönheitsschlaf. Es wäre ein Bild der vollkommenen Entspannung, wenn nicht einen halben Meter tiefer zwei Hände pausenlos trommeln und den Stift drehen würden.